Ein Plädoyer an die Politik, mehr auf die Wissenschaft zu hören als auf die Wirtschaft, stand im Mittelpunkt des Abends mit Energie- und Klimaökonomin Claudia Kemfert beim Göttinger Literaturherbst im Einbecker KWS-Biotechnikum. „Die Energiewende kann gelingen, wenn wir aus den Fehlern lernen – und mit uns allen, die wir mitmachen“, sagte die 54-Jährige. Deutschland habe vor gut 20 Jahren die besten Voraussetzungen gehabt und sei auf einem guten Weg gewesen, aus den fossilen Energien auszusteigen. Was sie seitdem jedoch habe beobachten müssen, sei „seltsam, gruselig und total daneben“ gewesen, meint die promovierte Wirtschaftswissenschaftlerin, die seit 2004 die Abteilung „Energie, Verkehr, Umwelt“ am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) leitet und Professorin für Energiewirtschaft und Energiepolitik an der Leuphana Universität Lüneburg ist.

Mit Moderator Nils König, Naturwissenschaftler und Vorstand des Klimaschutzbeirats der Stadt Göttingen, sprach Claudia Kemfert im fast ausverkauften Forschungsgebäude der KWS über ihr im Februar erschienenes Buch „Schockwellen“. Das sei eine kritische Analyse, wie Deutschland seine einstige Vorreiterrolle bei der ökologisch notwendigen und ökonomisch sinnvollen Klimawende fast verspielt habe, sagte König. Den Buchtitel habe sie gewählt, erzählte die mehrfache Bestsellerautorin, weil immer neue Schocks zurzeit die Menschen erreichten: von der Energie über Inflation bis zum Krieg.
Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 sei ein Fernsehinterview von Bundeskanzler Olaf Scholz für sie zum Schlüsselerlebnis geworden, berichtete Claudia Kemfert: „Es verschlug mir den Atem.“ Scholz‘ Ignoranz, wie dieser behauptet habe, man könne die Auswirkungen eines russischen Gasstopps nicht berechnen, zeige exemplarisch, wie Politik mit Wissenschaft umgehe und deren Erkenntnisse abtue. Mit jahrelanger Erfahrung, Kenntnissen über alle Leitungen, vielen Daten und Rechenmodellen könne die Wirtschaftswissenschaft sehr wohl berechnen, welche Auswirkungen welche Gaspipeline habe. Aus Angst vor einem Embargo habe man in den ersten Monaten nahezu die kompletten Kriegskosten Russland finanziert.
Scholz‘ Aussagen zu russischen Gaslieferungen nach Beginn des Ukraine-Kriegs habe sie „fassungslos“ gemacht, und im Nachhinein habe sich die Auffassung der Wissenschaft als richtig herausgestellt und nicht die Prognose des damaligen Wirtschaftsministers Peter Altmaier (CDU): Ja, sagte Kemfert, der Verzicht auf Erdgas aus Russland werde etwas kosten, aber nur wenige Unternehmen wie die Chemieindustrie hängten wirklich am Gastropf, das lasse sich nachweisen, sagte Kemfert. „Aber die sind eben gut vernetzt ins Kanzleramt.“
Die mehrfach ausgezeichnete Wissenschaftlerin für Energie- und Klimaökonomie sprach von „Putins Drehbuch“, als sie im Gespräch mit Nils König darlegte, wie sie davor gewarnt habe, deutsche Gasspeicher an Töchter des russischen Gasprom-Konzerns zu verkaufen, wie Putin bereits 1999 geschrieben habe, über den Energiesektor Russland wieder zur Supermacht machen zu wollen, wie schon 2014 beispielsweise Bulgarien der Gashahn von Russland abgedreht wurde. Kollegen aus Europa hätten sie damals gefragt, ob man diese Abhängigkeiten denn nicht sehe in Deutschland.
Claudia Kemfert benennt in ihrem Buch einige Verantwortliche für die verfahrene Situation, durch die das Land in der Energiewende um Jahre zurückgeworfen worden sei. Die „denkwürdigste, skurrilste Begegnung mit Politik“ habe sie mit Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) gehabt, erzählte sie. Wissenschaftliche Gutachten mit unterschiedlichen Ergebnissen seien normal, die Frage sei, wie Politik damit umgehe. Die Pipeline „Northstream 2“ hätte man nicht benötigt, meint Claudia Kemfert. Ihre entsprechende Studie habe Schwesig damals in einer Anhörung unerhört als „Einzelmeinung“ abgewertet. Vor dem Hintergrund mittlerweile bekannt gewordener Verbindungen einzelner Politiker mit Russland werde vieles klarer. „Das ist das krasseste, was ich bislang erlebt habe“, sagte Kemfert. Die Anhörung bei Schwesig sei die bisher einzige Sitzung gewesen, die sie vorzeitig verlassen habe.
Und offenbar lerne Deutschland immer noch nicht, wenn es beispielsweise vor Rügen oder Wilhelmshaven völlig überdimensionierte Flüssiggas-Terminals bauen wolle, dafür auch Naturschutzgebiete nicht so ernst nehme. Man müsse zudem aufpassen, mit wem jetzt Geschäfte gemacht würden, dürfe nicht von einem Autokraten zum nächsten wechseln.
Deutschland sei doch mal ein Land der Ingenieure und kluger Köpfe gewesen, sagte Claudia Kemfert, warum jedoch schrecken hierzulande viele auf, wenn jemand mit einer Wärmepumpe kommt – einer Technologie, die in Dänemark beispielsweise bereits seit den 1970-er Jahren eingesetzt werde. Indiviuell sei man in Deutschland inzwischen „gut unterwegs“, was die Energiewende betreffe. „Aber in der Summe wird es schwierig.“ Da brauche es noch mehr Energiegenossenschaften beispielsweise, die es aber schwer hätten, weil sie großen Konzernen natürlich Marktanteile weggenommen haben.
Im Schlusskapitel ihres Buches „Schockwellen“ beschreibe sie positive Beispiele, wie durch lösungsorientiertes, entschlossenes Handeln die Energieversorgung gesichert werde könne, erzählte Kemfert – sie nennt diese – angelehnt an eine TV-Serie der 80-er Jahre – die „MacGyver der Energiewende“. Die Wende in der Energieversorgung werde nicht von oben kommen, sondern von unten, sie sei kleinteilig, dezentral, digital und intelligent vernetzt, ist die Wissenschaftlerin überzeugt.
Der 32. Göttinger Literaturherbst bietet in Einbeck drei weitere Veranstaltungen: Während es sowohl für die Lesung mit Max Goldt im Alten Rathaus am 3. November sowie den Abend mit Schlager-Legende Roland Kaiser am 4. November in der PS-Halle keine Saaltickets mehr gibt (aber noch Digital-Karten für den Live-Stream), sind für die Lesung mit der Newcomer-Erfolgsautorin Caroline Wahl am 5. November um 19 Uhr im KWS-Biotechnikum noch Saal-Tickets erhältlich. Eintrittskarten und Informationen unter literaturherbst.com sowie bei allen an Reservix angeschlossenen Vorverkaufsstellen.
