Das damals gerade in Kraft getretene Betriebsverfassungsgesetz hat es möglich gemacht: Vor 70 Jahren, am 13. März 1953, haben Arbeiter und Angestellte der KWS ihren ersten Betriebsrat gewählt. Seitdem ist die Interessenvertretung der Beschäftigten eine feste Größe der Mitbestimmung bei dem Einbecker Saatzuchtunternehmen, sagt der aktuelle Vorsitzende des Betriebsrates, Jürgen Bolduan. Das Gremium gestaltet aktiv die Arbeitsbedingungen mit in dem eigenständigen Familienunternehmen, dem es wirtschaftlich gut geht: Einen Streik hat es in all den sieben Jahrzehnten ebenso wenig gegeben wie gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen Betriebsrat und Unternehmen.
Und dennoch gebe es bei den Verhandlungen zum Haustarifvertrag natürlich Meinungsverschiedenheiten mit der Arbeitgeberseite, sagt Betriebsratschef Jürgen Bolduan. “Aber wir begegnen uns auf Augenhöhe, versuchen es auf einer vernünftigen Basis zu klären und arbeiten an einem gemeinsamen Konsens.” An seiner Seite hat der Betriebsrat die Gewerkschaft, bei KWS ist das die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt. Durch Tarifverhandlungen konnten insbesondere in der jüngeren Vergangenheit Corona-Sonderzahlungen oder Inflationsausgleichsprämien verhandelt werden. Aber auch die jährliche, von der Dividende abhängige Einmalzahlung sei ein Erfolg solcher Verhandlungen, sagt Jürgen Bolduan.

Der 56-Jährige ist erst der vierte Betriebsratsvorsitzende in den 70 Jahren: Nach Josef Heibach (1953-1978), Franz Josef Weinrich (1978-1998) und Jürgen Kunze (1998-2010) steht Jürgen Bolduan an der Spitze des mittlerweile 17-köpfigen Gremiums. Der Einbecker ist seit 1994 Mitglied im Betriebsrat, wagte damals den Sprung aus der Produktion in das Mitbestimmungsgremium. Bolduan war als Kampagnen-Mitarbeiter im Bereich Zuckerrübe bei KWS eingestiegen. 15 Jahre hat er als Arbeitnehmervertreter auch im Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft gesessen, dort schied er Ende vergangenen Jahres aus.
Als 1953 der erste Betriebsrat bei KWS gewählt wurde, bestand dieser aus sieben Mitgliedern, davon waren fünf Arbeiter und zwei Angestellte. Josef Heibach stammte aus der Gruppe der Arbeiter. Insgesamt gab es damals 252 wahlberechtigte Beschäftigte bei der Klein Wanzlebener Saatzucht vormals Rabbethge und Giesecke AG, die Wahlbeteiligung lag bei 88 Prozent. Heute (2022) sind allein am Standort Einbeck 1654 Beschäftigte wahlberechtigt, engagieren sich insgesamt 40 Mitarbeiter in vier verschiedenen Betriebsräten, neben dem in Einbeck gibt es seit 1991 einen in Klein Wanzleben, seit 2002 einen in Wohlde (Lochow Petkus) und seit 2019 einen in Berlin.
In den vergangenen Jahrzehnten hat der Betriebsrat durch mehrere Betriebsvereinbarungen die Arbeitsbedingungen der KWS-Beschäftigten mitgestaltet, beispielsweise zur Altersteilzeit, zur betrieblichen Altersvorsorge, beim Kinderbetreuungszuschuss oder bei der Pflegezeit. Mobiles Arbeiten, Digitalisierung, Familienfreundlichkeit im Betrieb, zeitgemäße Rahmenbedingungen und betriebliche Gesundheitsförderung werden die Arbeit des Betriebsrates in Zukunft bestimmen, sagt Bolduan.
Dass es bei KWS nicht immer nur bergauf ging und Wachstum herrschte, zeigen Betriebsvereinbarungen zum Personalabbau Ende der 1970-er Jahre. Und auch einen Sozialplan mit Abfindungsregelungen hat der Betriebsrat schon ausgehandelt, als es zum Start des neuen Standorts Berlin zu Umstrukturierungen kam. Ohne Betriebsrat hätte es keinen Sozialplan gegeben, dieser ist gesetzliche Voraussetzung dafür, sagt Bolduan.
Und dann gab es da doch einen Streik im Unternehmen, allerdings weit vor dem Zweiten Weltkrieg am damaligen Sitz in Klein Wanzleben bei Magdeburg: 1920 stellten sich die Betriebsräte der Zuckerfabrik Klein Wanzleben an die Spitze der Auseinandersetzung der landwirtschaftlichen Arbeiter, um ihre tariflichen Leistungen einzufordern. Bezahlung nach Tarifvertrag war zwar das Ergebnis damals, die mutigen Betriebsräte jedoch wurden durch die damaligen Direktoren der Zuckerfabrik entlassen und der Betriebsrat wurde nach den Wünschen der Direktion umgebildet.


Hallo Herr Bertram, gut geschrieben.
Ihr Artikel hat bei Funckes zu vielen Anrufen geführt. Etliche ehemalige KWS-Angehörige wollten von mir wissen, wer die Personen auf dem Bild sind. In der ersten Reihe sitzen von links gesehen: Dr. Matthias Rabbethge, Vorstandsmitglied (kurz: VST), Herbert Kunze, Betriebsratsmitglied (kurz: BTR), der Vater des späteren BTR-Vorsitzenden Jürgen Kunze, Dr. Carl-Ernst Büchting (VST-Sprecher), Armin Leidloff (VST) und ganz rechts auf der Bank: Dr. Kurt Quensell (VST). Die Namen der Personen in der oberen Reihe sollten Sie bei Herrn Bolduan erfragen und ggf. den Artikel ergänzen.
Ich selbst war von 1976 bis 2005 Finanzprokurist der KWS und hatte bereits vorher als Handlungsbevollmächtigter und später als Leiter der Finanzwirtschaft bis zu meiner Pensionierung in 2005 an allen in dem Zeitraum geführten Tarifverhandlungen teilgenommen. Wenn ich mich recht erinnere, dann haben wir nur einmal eine Verhandlung ergebnislos abgebrochen und Tage später dann eine Einigung erzielt. Die Verhandlungen waren meist hart aber fair und freundlich im Ton und führten stets zum Win-win-Ergebnis.