Von Frank Bertram
Auf dem Sofa liegend lässt sich wunderbar Musik genießen. Bequem wiederholbar. Individuell. Einfach nur erneut auf Start drücken, und schon spielt das Musikgerät das Lied immer wieder. Ein Live-Konzert ist da anders. Nicht genau so wiederholbar. Nur dieser eine Moment, dieser eine Tag entfaltet die Kraft der Kultur. An einem besonderen Ort, gemeinsam mit anderen Menschen. Ein Erlebnis. Ein Ereignis. „Sie erleben etwas, was wie ein Maßanzug nur für sie gemacht ist“, sagte Götz Alsmann. „Ich mag den Gedanken, dass etwas nur für den Moment geschaffen wird“, sagte Nils Wülker einen Abend später. Drei Tage lang entfaltete sich die Kulturkraft in der Einbecker PS-Halle. Zum zweiten Mal gab es „Kulturkrafttage“, das noch junge Festival der Sprache und der Musik. Die Besucher erlebten ein abwechslungsreiches Programm mit vier Konzerten, die unterschiedlicher nicht hätten sein können.

„Weitermachen, wird schon“ – so hat Jazz-Trompeter Nils Wülker seine Erfahrungen aus der Corona-Zeit beschrieben, als eine Zeit lang keine Live-Auftritte möglich waren. Und diese Gelassenheit möchte man auch den Macherinnen und Machern der „Kulturkrafttage“ zurufen, denn einige der Veranstaltungen hätten deutlich mehr Besucher verdient gehabt, verloren sich die Menschen geradezu im Saal. Vielleicht ist auch nicht für jedes Format die große PS-Halle der passende Ort, weil eben zu groß – nicht kräftig genug für Kulturformate, die dichtgedrängte Zuschauerreihen für die Atmosphäre benötigen. Aber an diesen Stellschrauben lässt sich ja drehen.

Die „Kulturkrafttage“ haben auch bei ihrer zweiten Auflage vom Kontrast gelebt. Wo zur Blauen Stunde die großartige Schauspielerin Eva Mattes mit dem jungen Trio E.T.A. Texte aus Paul Austers „Das rote Notizbuch“, Marie Luise Kaschnitz „Eisbären Erzählungen” und Mary Ruefles „Mein Privatbesitz“ mit der monumentalen Musik von Franz Schuberts Klaviertrio Nr. 2 Es-Dur op. 100 D 929 abwechselte, hatte der unvergleichliche Götz Alsmann tags zuvor mit seiner Band die PS-Halle zum Oldie-Ort des Jazzschlagers gemacht. Es gibt kaum jemanden wie den studierten Musikwissenschaftler aus Münster, der auf der Bühne so kenntnisreich und charmant über deutschsprachige Unterhaltungsmusik sprechen kann, über die musikalische Erinnerungskultur alter Schlager. „Wer in der Tradition des deutschen Schlagers aufgewachsen ist, weiß alles über die Liebe“, präsentierte Götz Alsmann mit Liedern von und über die Liebe aus den 1920-er bis 1960-er Jahren mit seiner kongenialen Band einen Sound, bei dem Jazz und Schlager sich liebevoll die Hand reichen. Das durchaus gesetzte Einbecker Publikum wusste, wovon er sprach und kannte viele der Schlager. Alsmann war erst zum zweiten Mal in Einbeck, vor fast 40 Jahren hatte das Musikmultitalent auf den Brettern der legendären Vogelbecker „Outpost“ gestanden. Jetzt also die gut gefüllte PS-Halle – was für ein Unterschied.
(Anmerkung 20.03.2023: Nachdem mich Hinweise erreichen, dass Götz Alsmann 2011 im Wilhelm-Bendow-Theater aufgetreten sei, kann ich das aus eigener Erinnerung inzwischen bestätigen. Nächstes Mal prüfe ich mein Gedächtnis besser, versprochen!)

Erneut haben sich die Bühnengespräche von Frank Stefan Kimmel als Vorspiele zu den unterschiedlichen Konzerten als hilfreich erwiesen, im Plauderton den Besuchern interessante Informationen zu geben. So erzählte Jazz-Trompeter Nils Wülker, wie er durch wiederholende Loops und live eingespielte Samples mit viel Elektronik sein Instrument so einsetzen und zu einem Sound kreieren kann, wie es die Zuschauer von der Trompete zunächst nicht erwarten. Eva Mattes, die so viel mehr in ihrem Theaterleben gemacht hat als die 14 Tatort-Jahre als „Klara Blum“, wegen der sie die meisten kennen dürften, berichtete von Hörbuch-Aufnahmen, bei denen die Sprecher überkonzentriert sein müssen, weil sonst jedes Atmen zu hören ist. Und sie gab dem Publikum augenzwinkernd mit auf den Weg, dass es selbst mitbestimmt, wie der Abend wird – husten an den falschen Stellen inklusive. Die Newcomer vom Trio E.T.A. (benannt übrigens nach dem Schriftsteller E.T.A. Hoffmann) erläuterten auch für den Laien verständlich, wie unterschiedlich ein Flügel, eine Violine und ein Cello die Töne erzeugen: Bei Tasten kommt der sofort beim Anschlag, bei den Streichern baut sich der Ton erst auf. Elene Meipariani, Till Schuler und Till Hoffmann nickten sofort zustimmend, als Eva Mattes von der Leidenschaft sprach, ohne die ihr Beruf nicht denkbar sei. „Du musst das wirklich wollen, sonst hast Du die Kraft gar nicht.“


Sehr anspruchsvoll waren die Texte der Matinee, mit der das kulturkräftige Wochenende am Sonntag Mittag endete und bei der Hölderlin auf Jazz traf: Julia Hansen und Heikko Deutschmann haben mit Jörg Siebenhaar (Klavier/Akkordeon), Thomas Zander (Saxophon) und Rhani Krija (Percussion) die Musik zu einer der großen Liebesgeschichten der Weltliteratur, der von Friedrich Hölderlin und Susette Gontard, sprachlich klingen lassen. Dabei entrollten sie gut 90 Minuten eine poetische Sprache, die sich mit geschichtsphilosophischer Argumentation und religiöser Metaphorik verband. In der Rezitation des Briefromans „Hyperion und Diotima“ aus dem Ende des 18. Jahrhunderts sehnten, hofften und träumten die Schauspieler zunächst von der beiden Seiten der Empore, bevor sie im Kreise der Musiker auf der Bühne strebten, schluchzten und mit den jazzigen Klängen einer letztlich unglücklichen Liebe schmolzen. Oder, um es mit Hölderlins Schlussworten zu sagen: Was bleibet aber, stiften die Dichter.
Die zweiten „Kulturkrafttage“ konnten mehr als 1000 Gäste begrüßen, bilanzierte der Veranstalter. „Wir wussten, dass es in diesem Jahr eine Herausforderung werden würde, Menschen aus ihren heimischen Wohnzimmern hinaus zu locken. Doch es ist uns gelungen und ich bin sicher: Wir haben die Herzen unserer vielen Gäste erreicht und ihnen Momente des kulturellen Auftankens geschenkt“, erklärte Julia Hansen, künstlerische Leiterin des Festivals. Der Termin für die dritten „Kulturkrafttage“ 2024 steht bereits fest: Sie werden im kommenden Jahr vom 15. bis 17. März im PS-Speicher in Einbeck stattfinden.


